in mir bewegen sich Worte. Gedanken. so viele Gedanken. angestoßen von Wut, von Euch, von meinen Kindern, von Fragen. natürlich kenne ich keine Wahrheit. selbstverständlich beschreibe ich hier etwas, was aus meiner Perspektive so aussieht. völlig logisch bewege ich mich als Teil dieser Welt und nicht als Betrachter*in derselben. das macht alle unsere Theorien ja so fehleranfällig. es ist nicht möglich, eine außenstehende Perspektive einzunehmen. auch wenn diese Erkenntnis wehtut und uns die allumfassende Diskussionsgrundlage entzieht.
wenn Menschen sich entscheiden, asketischen, eremitischen oder zölibatären Regeln zu folgen, dann könnte das diesem Bedürfnis nach Objektivität zuzuschreiben sein. es könnte darum gehen, Ordnung in die eigene Perspektive bringen zu wollen. es könnte die Suche nach Perfektion, nach Unverletzlichkeit beschleunigen. schließlich betrachten wir uns alle als mehr oder weniger konsum-benebelt und multimedial beeinflusst. wenn wir diesen Aspekt ernsthaft berücksichtigen, macht uns das eigentlich unmündig, denn wie soll ein benebelter Geist eine vernünftige Entscheidung treffen? wir müssen das schon abschütteln, um wieder klar sehen zu können. oder ist Vernunft keine Grundlage für Entscheidungen?
ist diese Dauerbenebelung vielleicht gar nicht so schlecht, um ab und zu loslassen zu können? ist ein Gang durch den Supermarkt vielleicht manchmal Meditation? berührt von Musik, Farben, Gängen, dem Rollen des Einkaufswagen, geleitet von Plakaten vor dem Eingang, und dann dieser Appetit auf etwas, was Du länger nicht geschmeckt hast. die Überforderung des Gehirns ähnelt dem Zustand der Trance. das Gehirn schwingt in Alphawellen und findet Zugang zur Meditation. bist Du vielleicht schon mal nach einem Einkauf in die Sonne getreten und konntest Dich nicht daran erinnern, wie Du raugekommen bist? es gelingt sicher nicht immer. aber ich hab mich schon öfter gewundert, dass es mir nicht möglich ist, mich im Supermarkt zu konzentrieren. klar schiebe ich das zunächst auf die Reizüberflutung. nur: was macht Reizüberflutung in/mit meinem Gehirn?
wenn wir uns der Reizüberflutung entziehen, dann begründen wir das mit der Sehnsucht nach Ruhe und Einkehr. wir provozieren (dieselbe) Trance mit anderen Mitteln: Rückzug, Yoga, Stille, autogenes Training, Meditation, Entzug von Genussmitteln. idealerweise nehmen wir uns dann dafür Zeit. das macht es auch so erholsam: ich trage anschließend nicht meine Einkäufe zum Bus. ich tauche genüsslich wieder auf und reflektiere in Ruhe und fühle mich der gehetzten Welt überlegen.
dabei ist es immer dasselbe Gehirn. und in Stille, im Sitzen oder in der Leere geschieht keine genuine Kreativität, die mich überlegen machen könnte. ich habe da auch keinen Anspruch auf Erkenntnisse. das Unterbewusstsein arbeitet auch in Trance an all unseren Aufträgen für es weiter. aber kreative Lösungen entstehen in der Reibung durch Bewegung. wir müssen raus aus unseren Gedankenhäusern, sonst entstehen keine neuen Blickwinkel. und Du musst um das Haus schon rum gehen, um es von hinten ansehen zu können.
dieser Entzug von Genuss als etwas, was erstrebenswert ist, der wundert mich immer wieder. gerade verzichten wieder Millionen Menschen auf bestimmte Dinge, weil ja Fastenzeit ist. sie alle freuen sich auf Ostern, wenn sie endlich wieder Alkohol trinken, Schokolade essen, Kuchen mit Zucker im Teig verschlingen oder faul auf dem Sofa liegen können. das wird ein so wundervoller und intensiver Moment, wenn endlich wieder das getan werden kann, was der Körper so mag. die Beschreibung vom ersten Biss in den Apfel nach einer Woche Heilfasten. das Gefühl des Superdusels nach einem Schluck Wein am Ende der Fastenzeit. oh, erst jetzt wissen wir wieder, wie gut das ist und wie wenig davon genügt. weil wir vorher darauf verzichtet haben. weil es hart war. weil wir es durchgezogen haben.
ich schreibe das und bin mir nicht sicher, ob ihr die Ironie schon lesen könnt, die mich gerade durchströmt. ich bin umgeben von Menschen, die sich wirklich anstrengen in ihrem Leben. ich bin umgeben von Familien, in denen beide arbeiten oder nur eine da ist, um die Kinder zu versorgen. ich kenne niemanden, der gerade sagt: och, Osterferien, ich könnte noch zwei drei Wochen länger, weil es gerade echt super läuft.
ist Urlaub vielleicht auch nur so schön, weil wir ihn so selten haben?
oder wäre es möglich, dass selbst dieser (fremdbestimmte, weil angepriesene und gehypte) Verzicht uns nur leichter manipulierbar macht? weil wir uns einer Erkenntnis nahe fühlen? weil wir uns mit diesem verschobenen Fokus und der permanenten Konfrontation mit unseren Lüsten (ich weiß, wie sich Zucker-Fasten anfühlt) plötzlich auf einer anderen Ebene mit uns auseinandersetzen müssen?
warum gibt es eigentlich keine Religion, die vorgibt, dass Menschen sich darum kümmern sollen, dass es ihnen gut geht? dass sie ihre Ressourcen ausschöpfen sollen? dass sie das Glück jagen dürfen?
wenn ich das Ganze mit auf die sexuelle Ebene nehme, dann erweitert sich das Bild gerade bei dem Thema Verzicht: Verheiratete haben eben weniger Sex, das ist halt so, das ist normal. Appetit holen ist erlaubt, aber gegessen wird zuhause. Sex einfach nur so ohne Gefühle kann ja auch gar nicht schön sein.
wir zimmern uns eine Realität aus Annahmen und nennen das normal. wir wissen ja, wie toll Verzicht ist. die katholische Kirche macht uns vor, wie heilend der Zölibat wirkt. Millionen missbrauchte Kinder hatten einfach nur persönliches Pech. das hat nichts mit dem dahinterstehenden System zu tun. Verzicht gehört zum Leben. wir können nunmal nicht alles haben. und wir können auch nicht alle machen, was wir wollen. wo kommen wir denn da hin? nein, es ist schöner, den Verzicht weiter multimedial auszubauen. dummerweise befeuert das aber meiner Ansicht nach eine andere Komponente: die Sehnsucht, geliebt zu werden.
wenn wir nur genug verzichten, dann sind wir reiner. dann sind wir besser. dann haben wir was verstanden, werden schöner, machen alles richtig und werden ENDLICH unantastbar. wir haben ja verzichtet. was denn bitte noch?
es stellt sich mir schon die Frage, wie lange so ein Versteckspiel vor sich selbest gehen soll. wie lange sollen wir für den Partner, für die Kinder, für den Job, für die Ehe verzichten? und wann ist es gut? wann können wir endlich genießen? und vor allem: wie?
Genuß ist etwas, was trainiert werden muss. wir kennen alle diese Bilder von Menschen, die irgendwie zu schnell essen, Kinder, die apathisch vor dem Fernseher hocken, lieblosem Alltag. wir haben zu wenig Zeit, kaufen schnell auf dem Heimweg ein, sind dann angespannt, weil die Kinder quengeln und erst, wenn der Fernseher läuft kehrt Ruhe ein. dann können wir alle davor sitzen und ohne hinzugucken Brote und Gurkenstücke vertilgen. und am Wochenende wird dann „richtig“ gekocht und das heißt, dass dann wirklich alle an einem Tisch sitzen und jeder probiert bitte erst wenigstens mal, bevor er oder sie sagt „schmeckt mir nicht“ und wir essen ordentlich und wir warten aufeinander und wenn das nicht klappt, dann fühlt sich das an, als hätten wir darin versagt, unseren Kindern Wertschätzung beizubringen. und dann basteln wir eben zusammen eine österliche Tischdekoration für den nächsten Versuch und brechen uns einen ab mit Filzpüppchen und Naturmaterialien, weil das so lieb ausschaut. und dann wird es ja wohl klappen mit dem Genuß, wenn es verlässlich schön aussieht, schließlich haben wir da ja Liebe reingesteckt. also Geld für den Filz und Zeit zum Basteln und andere machen sowas ja nicht.
dabei haben wir nur verpasst, unseren Kindern beizubringen, wie schön es ist, zusammen zu essen.
dasselbe gilt, wenn wir von Sex sprechen. Sex wird nicht besser, wenn wir darauf verzichten. er wird schlechter. die Hürden wachsen (ohnein, mein Bauch hängt so! kann ich das noch? ich bin so müde, wäre wann anders nicht besser? was, wenn er/sie mich gerade nicht attraktiv findet? können wir nicht einfach wie immer einen Film gucken und dabei Händchen halten?). und unser Sensorium verkümmert. es lohnt sich, sich mit den eigenen Sehnsüchten und Bedürfnissen zu beschäftigen. es lohnt sich, in Pornos zu stöbern und zu überlegen, warum macht mich das gerade an, was ich da sehe? es lohnt sich, sich mit dem eigenen Körper zu beschäftigen. welche Materialien, welche Temperaturen berühren mich wie? entspanne ich besser bäuchlings oder auf dem Rücken? möchte ich loslassen oder möchte ich festhalten? was macht mit mir der Gedanke, den anderen Partner auf dem Weg zum Orgasmus zu begleiten?
warum finden wir normal, wenig bis keinen Sex mit unserem Partner zu haben?
warum finden wir normal, nur einen Menschen zu lieben?
warum finden wir normal, Exklusivitätsrechte einzufordern?
und warum finden wir den Rausch unangemessener als den Verzicht?
und wenn wir schon dabei sind: weiß ich eigentlich wirklich, was ich mit meinen Masturbationsfantasien so anfangen kann? woher kommen meine Träume? will ich das kleine Reihenhaus am Stadtrand, weil ich schon immer Gartenarbeit geil fand und dann endlich Platz für mein Bastelzeug habe? oder will ich eine Wohnung in einem belebten Viertel, die viel zu teuer und zu klein ist, mit der ich aber den Unterschied zwischen Werk- und Feiertag am Straßenverkehr erkennen kann? wie fühlt sich meine Haut an, wenn ich mir vorstelle, dass ein Fremder sie berührt? darf ich mich mit ausgeleiertem Bauch echt schön finden, oder behaupten das diese Feministinnen nur? ist es ok, meinen Geliebten unattraktiv zu finden? und kann ich mir von allem ein bißchen wünschen und nicht immer gleich die volle Ladung?
uns wird am Ende des Lebens niemand dafür auf die Schulter klopfen, dass wir so doll verzichtet haben. dass wir uns irgendwelchen Strukturen perfekt angepasst haben. dass wir alle Regeln eingehalten haben. aber wir werden was davon haben, wenn wir uns an den verbotenen Quickie im Stehen erinnern. wenn wir uns an die Nacht erinnern, in der wir vergaßen, wer wir sind. wir werden davon profitieren, auf unsere Sehnsucht gehört zu haben, wenn zurückschauen. das jedenfalls behaupten Sterbende. und ich finde, wenn Sterbende uns den Auftrag geben, glücklich zu sein, warum sollten wir das lassen?
Liefs
Minusch
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