„ach, ich hab das schon durch. so schlimm ist das mit dem Hort nach der Schule nicht.“
„die Kinder verabreden sich doch eh selber und wollen gar nicht so viel bei der Mama sein.“
„bei sowas kriegen die Frauen, die ihre Kinder in einem Hort betreuen lassen, ein schlechtes Gewissen.“
„also meine Kinder finden den Hort ja prima.“
„das ist doch ein romantisch-verklärtes Bild.“
…das waren heute früh die Reaktionen auf twitter, als ich zum ersten Mal darüber schrieb, dass ich Bauchschmerzen dabei habe, meinen Großen nach dem Unterricht an der Grundschule noch in einem Hort betreuen zu lassen. ja, ich weiß, warum ich mich so schwer tue, über das Thema zu reden. das ist schwieriger, als eine Grundschulklasse zum ruhig-sein zu bringen.
tja, was soll ich sagen: ich habe ein Problem damit, mir vorzustellen, dass mein Sohn nach dem Unterricht nicht nachhause gehen kann, weil da niemand ist. ein dickes Problem. so dick, dass mich freut, dass wir im ersten Losgang keinen Platz im Hort der Schule bekommen habe.
ich arbeite jetzt seit etwas mehr als 2 Jahren in der Grundschule. und das erste Jahr habe ich am eigenen Körper wieder spüren können, wie anstrengend das ist. ja, die Kinder passen sich an. sicher. aber von 8-12 immer mit anderen zusammen zu sein, nicht mal auf dem Klo Ruhe zu haben und zwischendurch konzentriert sein zu müssen, ist nicht wenig. wenn ich mir ansehe, wieviel tagsüber auf twitter los ist, denke ich, dass es vielen Erwachsenen auch so geht: viele Menschen brauchen im Alltag die Möglichkeit, kurz abschalten zu können. dafür ist weder eine differentialdiagnostische Ursache nötig noch ein medizinischer Nobelpreis: Schule bedeutet Stress. das ist für wirklich niemanden eine Überraschung.
Schule war schon immer Stress. vor allem für die Kinder, die aus welchem Grund auch immer nicht in der Norm unterwegs waren.
ich hatte es als Grundschulkind leicht: Deutsch als Muttersprache, ein Elternteil Akademiker, freundlich, blond, ein Mädchen. ich konnte dem Unterricht folgen und hatte nie wirklich Zweifel, gut genug zu sein. und trotzdem war die Schule für mich viel. schön auch, ja. aber viel. glücklicherweise ist nie wirklich aufgefallen wie oft ich tatsächlich geträumt habe. die Konfrontation mit dem, was „normal“ ist, hat mich gestresst. die Jungs haben mich gestresst. die sozialen Regeln, die ich bis heute kaum verstehe, haben mich gestresst. mir hat das niemand angemerkt. ich war immer gut darin, das zu verstecken. aber wenn ich mir vorstelle, ich hätte noch 3h länger dort bleiben müssen…jeden Tag…
meine schulische Karriere und meine zu frühe Konfrontation mit dem Syndrom „Leistungsfähigkeit“ haben dazu geführt, dass ich mit Anfang 20 meinen ersten Burnout hatte. weil ich zwar wusste, dass mir träumen gut tut, weil ich aber auch gelernt hatte, dass ich mit träumen kein Geld verdienen kann. mit Anfang 20 war ich gerade in den Bundesvorstand eines Jugendverbandes gewählt worden, hatte einen Job als HiWi bei meiner Lieblingsprofessorin (bei der ich auch mitbekam, wie deren wissenschaftliche Assistentinnen unter Druck standen, am laufenden Meter etwas zu veröffentlichen), arbeitete im Order-Management einer Software-Firma, begann die Ausbildung zur Aerobic-Trainerin und studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. während der Summer-school in Düsseldorf (formal and funktional linguistics…es war grandios…) machte mein Freund mit mir Schluss und ich brach zusammen. Burnout. tja.
von außen betrachtet hätte das absehbar sein können, aber um mich rum nickten die Leute einfach anerkennend, wenn sie mitbekamen, was ich alles mache. Respekt wurde mir entgegengebracht. richtig derbe viel Respekt. dafür, dass ich dabei war, mich selbst auszulöschen. es fühlte sich auch geil an! ich war stolz (Respekt und so) und es lief bombig! ich hatte Geld, ich fühlte mich gut. wenn ich die war, die nachts um 22:00 das Büro im Philosphicum abschloss fühlte ich mich so gut, wie wenn mein Gehalt kam. mein Kinderwunsch hatte in der Zeit ernsthafte Konkurrenz von der Vision, eine anerkannte Linguistin zu sein. es kam mir wirklich attraktiv vor, Geld zu haben um den Preis, dass von meinen alten Bedürfnissen keines mehr Raum bekam.
seit dieser Zeit bin ich vorsichtiger. noch vorsichtiger seit Kilians Tod. und jetzt wieder: es gibt keine Garantie für gelingendes Leben! es gibt keine Garantie für Gesundheit! ich kann nicht in die Zukunft sehen!
die Prognosen für meine kleine Familie hier sind nicht rosig. aber sie werden sicher nicht besser, wenn ich mehr arbeite oder meine Kinder von möglichst vielen verschiedenen Menschen betreut werden. in meiner Vision von einem schönen Leben als Mutter, bin ich für meine Kinder nach der Grundschule da. egal, ob sie mich tatsächlich brauchen oder nicht. just in case! weil es nötig sein könnte! weil ich diejenige sein will, die ihnen erklärt, warum sie sich nicht so gut fühlen, wenn jemand was blödes sagt. weil ich diejenige sein will, die das Essen macht. weil ich diejenige sein will, die sieht, dass mein Kind müde ist. weil ich mit meinem Kind am Computer spielen und ausprobieren will. weil ich uns nicht abends noch zwingen will, für die nächste Deutscharbeit zu lernen. weil ich mit meinem Kind offen darüber spreche und er sich auch nicht vorstellen kann, nach der Schule in einer Betreuung zu gehen. weil ich meinen Kindern diesen Raum schützen will.
der Große kann es sich nicht vorstellen, in die Betreuung zu gehen, obwohl er sowas kennt. ich finde das nachvollziehbar.
ist das zu viel verlangt? ich habe die Ausbildung zur Entspannungspädagogin gemacht, damit ich Kindern dabei helfen kann, mit dem Stress umzugehen. aber meinem eigenen Kind möchte ich nicht als erstes beibringen, wie progressive Muskelentspannung funktioniert, sondern wie wertvoll diese innere Stimme ist, die sagt: „ey, die Sonne scheint und die Wolken sehen aus wie Tiere! ich will am Himmel einen Zoo bauen!“. ich möchte meine Kinder darauf vorbereiten, diesen inneren Raum für die Zukunft schützen zu können. sie sollen in der Lage sein, sich abzugrenzen und Worte wie „Effizienz“ oder „Erfolg“ zu entlarven. meine Kinder sollen nicht auf die Idee kommen, dass ihr Wert als Menschen von Zensuren oder gar einem Einkommenszettel abhängt!
mit diesen Gedanken fühle ich mich fast wie eine one-woman-Mini-Rebellion. es ist mein voller Ernst. mich würde am meisten enttäuschen, wenn meine Söhne bei den Pfandfindern eintreten, ein 1,0-Abi machen und BWL studieren. gut, ich würde sie trotzdem lieben, keine Frage. aber lieber wären mir ein Goth und ein Punk, die die Schule abbrechen um dann irgendwo Schreiner zu lernen. nicht, weil ich das selber gern gemacht hätte. ich hätte nie den Mut gehabt, auszubrechen. aber ich möchte, dass meine Kinder keine Angst vor Freiheit kennen. dass sie nicht überfordert sind, wenn ihnen plötzlich die Welt offen steht, nur weil sie 18 sind. ich will nicht, dass sie sich dumm und dämlich lernen in einem Bachelor-System. und ich hoffe sehr, dass ich sie vor der Sehnsucht nach Geld bewahren kann.
mit der Schule beginnt der Einstieg in die Leistungsgesellschaft. mit der Schule beginnt mein größter Job. der Job, auf den ich hingearbeitet habe. das, was ich immer hinkriegen wollte: meine Kinder da durch begleiten als ein Mensch, der ihnen vertraut. ich lasse sie los und erlaube, dass andere sie bewerten. aber ich werde die sein, die diese Bewertungen zur Not lachend in der Luft zerreisst und dem Kind lieber ein dickes Eis für eine 5 spendiert, weil Krisen mehr Aufmerksamkeit brauchen als Erfolge. weil ein Kind, das gute Zensuren schreibt, Selbstwirksamkeit lernt. weil ein Kind, das schlechte Zensuren schreibt, lernen soll, dass sowas nichts daran ändert, dass seine Seele unantastbar und wunderschön ist…
ja, bin ich wirklich romantisch mit diesem Plan? ist es so? ich habe leider schon zu viele Kinder mit Schulangst, Magersucht, Depression und Borderline gesehen. ich habe Kinder gesehen, die vor lauter Leistungsbewusstsein kaum entspannt sitzen konnten. Kinder, die in Tränen ausbrachen, weil ihnen ein Arbeitsblatt verloren gegangen ist. Kinder, die in der Schule keinen Anschluss mehr kriegen, weil sie ihn zu früh verloren haben, und deswegen nichts mehr wichtig finden. und ich sehe solche Kinder auch täglich in der Schule.
für mich ist es wichtig, die Wahl zu haben, damit meine Kinder sie auch haben können. wenn ich mich nie fragen kann, was ich will, lern ich nicht, zu spüren, was ich brauche.
Liefs,
Minusch
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