ich schaue zurück. wieder mal. und suche meinen Faden durch den Sommer und das Jahr und den letzten Winter und Herbst. wer war ich noch vor einem Jahr (oder vor 10 Jahren)? und wer bin ich jetzt? beispielsweise suche ich heute schon zum 4. Mal meine Brille (und zum 2. Mal habe ich sie auf dem Kopf). das wäre mir vor einem Jahr so noch nicht passiert. andererseits sehe ich, wenn ich unterwegs bin, ständig erwähnenswertes. wirklich ständig. ich bremse, bleibe stehen, lache, entschuldige mich bei meiner Begleitung und liege dann spontan auf dem Boden oder bücke mich neben eine Laterne oder ins Gras und fotografiere nach oben. der Sommer ist voller Bilder von irgendwelchen hübschen Pflanzen oder Stickern…ich könnte daraus folgern, dass ich nur sehe, was mir fern ist. sollte ich?
noch immer vermisse ich am 7.10. und die Tage davor und danach meinen Sohn. das ist geblieben, wie es war. auch alles, was damals war, ist noch an seinem Platz. wie eine wunderbare Kommode voller kleiner Schubladen mit verschiedenen Erinnerungen an das, was war. und die, die ich behalten habe, sind sorgsam sortiert nach schrecklich, berührend, belastend und wunderbar. ein paar Schubladen hakeln ein wenig. andere laufen flüssig. Massivholz.
letztes Jahr zu dieser Zeit, ging es mir gar nicht so viel anders. ich hatte mir im Sommer einen Lebenstraum erfüllt (mit dem Camper durch die Alpen nach Italien). und ich war voller Bilder und Gerüche und Farben und Musik und Glück. diesen Sommer waren wir „nur“ zuhause. aber: ich bin ebenso voller Bilder und Gerüche und Farben und Musik und Glück. ein Kaffee auf dem Oberfeld, Mitternachtspommes, Tanzen auf der Mathildenhöhe, Lachen auf Balkonen in Hinterhöfen, in Gärten und im Badesee. so viele wunderbare Menschen, vor allem Frauen, die diesen Sommer mit mir geteilt haben. so viele schöne Momente mit und ohne Wein, Mispelchen und Bier. so viel Lachen und Staunen und wunderbar finden. so viele Überraschungen.
noch vor einem Jahr habe ich einer Bekannten gesagt, dass ich mich nicht als Partnerin sehe oder erkennen kann. zum einen kann ich mir niemanden vorstellen, der oder die an meiner Seite stehen könnte. zum anderen habe ich niemanden vermisst. ich habe ganz aufrichtig niemanden vermisst. ich habe den anderen Paaren beim Paar-sein zugeschaut und mich als etwas anderes gesehen. ich sah ihr Schönes und ihr Schweres und dachte: „nun, wenn ich das eine nicht will, bekomme ich das andere auch nicht, das scheint mir fair zu sein.“
und heute schicke ich morgens nach dem Aufwachen eine kleine Kaffeetasse durch das Netzwerk. an jemanden. ein Mann. einfach so. ohne das eine oder das andere. ich muss nicht mehr tun. ich darf, wenn ich mag. tatsächlich bin ich auch schon mal zu weit gegangen. er ist schon mal nicht weit genug gegangen. wir konnten das einander zugestehen. und die Kaffeetasse blieb morgens nach dem Aufwachen. zurück kommt meist eine Sonnenblume.
und dann laufe ich mit Einkäufen die Straße hinunter und denke mir, wie sehr ich diesen zarten Wind der Veränderung mag. der, der die Bäume zärtlich verführt, Blätter fallen zu lassen. der das Laub auf dem Weg kurz verwuschelt und der einem Feld eine kleine Welle abringt. ein Wind, der im Sommer die nasse Haut trocknet, ohne sie auszukühlen. der im Winter in den getrockneten Blättern raschelt. der Dir einen Duft zuträgt oder eine Biene fortwischt.
nichts an mir ist so leicht wie dieser Wind. aber vielleicht hat etwas in mir diese Qualität? eine zarte Verehrung für den Moment. Sensibilität für Lichtstrahlen. und die Bereitschaft, stehen zu bleiben, wenn kein Wind der richtige ist, weil ich den Hafen nicht kenne?
kennst Du das: Du schälst Dich aus etwas heraus, was Dir zu eng geworden ist. ein alter Lieblingspulli, eine geliehene Hose oder die Socken Deiner Kinder, weil Du gehofft hast, dass sie nicht für alle zu klein geworden sind. meine Söhne wachsen mit mehr oder weniger Leichtigkeit und lassen die alten Klamotten hinter sich. und ich trauere, wenn ich nicht aufpasse, um eine Jacke, die ich jahrelang nicht getragen habe. ich liebe Neues und Veränderung und Wachstum und möchte trotzdem nur wenig loslassen. egal wie voll die Kommode ist.
da steh ich jetzt. auf der einen Seite das, was war. bald 48 Jahre voller Leben. und vor mir wieder etwas Neues.
habe ich Angst? vielleicht.
vor ihm? nein, vor mir und dem was war.
was verändert es? nicht viel…außer ein bis zwei Abende die Woche, die ich nicht alleine auf dem Sofa sitze. und etwas vermissen manchmal. und das Potenzial für Verletzung auf beiden Seiten. Hoffnung eventuell. und er weckt ganz alte Traumsorten auf.
ich habe mir den Sommer eingekocht, um noch lange davon zehren zu können. um ihn verschenken zu können. und dann sehe ich diesen Menschen an und weiß, dass ich ihn bitten darf zu kommen oder zu bleiben. dass ich ihn einladen darf. und ich sehe, wie meine Söhne mich ansehen. schaue in die Gesichter meiner Freundinnen, wenn ich davon erzähle, was mir begegnet. wer mir begegnet. und die Qualität bleibt dieselbe bei allen, die ich lieb habe. bei allen, die mich lieb haben. ich zu darf zu weit gehen oder auch nicht weit genug. es ändert gar nicht so viel. ich arbeite, ich haushalte, ich habe Ideen und Pläne und ich darf schauen, an welcher Ecke des Puzzles es passt und wo nicht. wo der Wind reicht für Bewegung und wo er nur zart über den Kopf hinweg streicht.
vor mir liegt der Winter wie ein liebevolles Versprechen. es wird wieder ruhig werden. und gemütlich und warm. es wird nach Tannenzweigen und Plätzchen durften. und es wird schön sein, weil es meins sein wird. meins und das der Menschen, die es mit mir teilen. ich werde mein Faden darin sein. nicht rot, aber tief grün. wie meine Libelle. grün wie das Draußen. wir die Komplementärfarbe zum kilianischen Rot meiner Erinnerung.
Liefs,
Minusch
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