(Triggerwarnung für Eltern und Schwangere: ich berichte aus meiner Zeit mit dem ersten Kind, der leider nicht mehr lebt! Wenn ihr gerade empfindlich seit: lest es nicht!)
Ich meine es ernst: Dieser Brief ist für Dich. Und ich fände es gut, wenn Du ihn lesen könntest. Denn ich habe keine Email-Adresse von Dir. Du hast meine. Aber irgendwie kann ich auch verstehen, warum Du sie nicht benutzt hast bis jetzt.
Ich möchte Dir aus meinem Winter 2003 erzählen, damit Du vielleicht nachvollziehen kannst, woher meine Nachrichten kamen.
Ich war 2003 schwanger mit einem kleinen Jungen. Geburtstermin war der 10.12.2003. Sein Vater war…ja…er war Teil einer für mich unfassbaren Nacht. In dieser Nacht erglomm in meinem Körper ein Stern. Ich spürte es. Ich spürte es, schüttelte dann den Kopf, schob es auf den Rotwein und löste mich langsam von ihm. Und am nächsten Morgen waren seine ersten Worte: „Scheiße! Es ist schon 10? Mist, ich muss ins Büro!…und wie soll ich das meiner Freundin erklären…“
Ich war also alleine mit dem kleinen Kerl in meinem Bauch. Gerade die Zwischenprüfung in Germanistik geschafft, gerade auf vergleichende Sprachwissenschaft umgemeldet, weil Philosophie mich völlig fertig gemacht hat (mit Ende eines jeden Seminars hatte ich mehr Fragen als zu Beginn – dies sei normal für Philosophie – naja, mir war das zu krass). Ich beantragte mein Urlaubssemester, suchte eine neue Wohnung für mich und den Kleinen. Ich beantragte Sozialhilfe. Es war der heißeste Sommer ever. Über 40° an mehreren Tagen hintereinander. Bis zum Umzug hatte ich eine Dachwohnung mit fünf Fenstern in Richtung Sonne. Und ich war alleine. Hatte Schmerzen. Immer wieder. Ich habe tagelang auf dem Sofa gelegen und immer wieder mein „Herr der Ringe“-Video geschaut, weil mich das weggetragen hat aus dem Jetzt.
Meine Professorin war schon sauer, weil ich wegen meiner Schwangerschaft ständig krank geschrieben war und sie einen Hiwi zu wenig hatte. Meine Eltern waren der Ansicht, ich wäre schwanger geworden, damit ich mein Studium nicht beenden müsse (…und ich war so glücklich mit meinem Studium…). Die Freunde hatten nur am Wochenende mal Zeit. Ich war allein.
Ein paar Tage nach meinem Umzug in die neue Wohnung spürte ich den Kleinen nicht mehr. Ich hatte Wasser in den Beinen, war erschöpft aber froh, endlich mein neues Zuhause zu haben. Ich ging vorsichtshalber ins Krankenhaus. Alle blieben ruhig. Ich müsse dableiben…ok. Es war ok. Auf mich wartete ohnehin niemand. Ich sollte verlegt werden in ein anderen Krankenhaus. Ok. Ich hatte mein Kind ja ohnehin dabei und noch knapp 3 Monate Zeit. Ich rief meinen besten Freund vom Krankenwagen aus an und bat ihn, ins Krankenhaus zu kommen, damit er meinen Schlüssel nehmen und Sachen für mich holen könnte.
Ich kam im anderen Krankenhaus an. Hektik. Ich schob es auf deren Job. Ich kam in einen OP-Vorbereitungsraum. Ich schob es auf Platzmangel. Ich sollte mir ein OP-Hemd anziehen. Ich erklärte mir, dass jetzt sicher viele Untersuchungen anstünden und sie mir Stress sparen wollten. Ich sollte meine Schamhaare rasieren. Ich dachte mir, dass das den Ultraschall einfacher machen würde. Immer wieder wurde mein Blutdruck gemessen. Dann kam eine Anästhesistin und bat mich, den Aufklärungsbogen zu unterschreiben. Der nächste OP wäre meiner.
(Stille im Kopf)
(es war zu früh)
(ich habe noch 3 Monate)
(Mein Kind ist zu viel zu klein für diese Welt)
Der Chefarzt kam: Es geht um Leben oder Tod, wenn sich ihre Werte weiter verschlechtern, machen wir den Kaiserschnitt hier!
(Ich soll ruhig bleiben???? WIE????)
(zwischen meinen Beinen der Arzt: Wann kann ich den Schnitt setzen???)
(an meinem Kopf: Wenn ich intubiert habe!!!)
(neben meinem Kopf: Atmen sie ganz ruhig ein und aus…das ist wichtig für ihr Kind…bleiben sie ruhig…beruhigen sie sich…)
Ich erwachte in einer grausamen Welt. Ich fror. Etwas fehlte. Jemand. Jemand fehlte. Mein bester Freund war da. Weiß wie eine Wand. „Wo ist Kilian?“ „Ich weiß es nicht…sie haben mir nur gesagt, dass Du hier bist…sie denken wohl, ich wäre der Vater…“
Kilian war am 7.10.2003 mit einem Gewicht von 1230g und einer Größe von 37cm auf die Welt geholt worden und ich war nicht dabei.
Sie nannten es Schwangerschaftsvergiftung. Ich war aufgequollen am ganzen Körper. Ob Kilian es schaffen würde, bezweifelten die Kinderärzte.
Kilian blieb im Krankenhaus. Er war klein. Er war krank. Er war da und irgendwie nicht da. Im Dezember hatte ich ihn zum ersten Mal auf dem Arm. Heiligabend saß ich bei ihm und durfte ausnahmsweise auch während der Übergabe bleiben. Am nächsten Tag sollte er verlegt werden für eine OP in einer anderen Klinik. Ich saß mit ihm am Fenster und sang ihm alle Weihnachtslieder vor, die ich kannte. Es schneite. Ich zeigte ihm die Schneeflocken und die weißen Straßen.
Ich ging nachts um 22 Uhr nachhause. Ohne mein Kind. Es war kalt. Ich setzte mich in mein Wohnzimmer und packte meine zwei Weihnachtsgeschenke aus: „Herr der Ringe eins und zwei“ als DVD im Directors Cut. Ich aß den Käse, den ich mir von der Sozialhilfe abgezwackt hatte. Ein Brie und ein Chaumes. Dazu ein kleines Walnussbrot. Dann klingelte es. Ich wischte mir die Augen und war überrascht, einen Freund meines Bruders zu sehen. Ich hatte ihn auf dem Hinweg getroffen und ihm gesagt, dass ich alleine zuhause wäre an Weihnachten. Er hatte es seiner Mutter erzählt und sie hat mir Essen geschickt. Warme Suppe, Plätzchen und Kuchen. Der Freund hatte mir eine CD mit Weihnachtsliedern gebrannt. Er blieb nicht lange…und doch blieb er für immer, weil dies ein Geschenk war, dass völlig überraschend kam und mir bis heute so unglaublich wertvoll ist. Das mir durch die Nacht geholfen hat. Das mich getragen hat, als ich am nächsten Tag alleine dem Kinder-Rettungswagen mit meinem sedierten Kind hinterherfuhr.
Am schwierigsten war es, die Beerdigung von der Sozialhilfe zu bezahlen. Ich konnte verstehen, dass Kilian hier nicht bleiben konnte. Ich konnte verstehen, dass er nicht bei mir bleiben konnte. Ich nahm Antidepressiva und ging zur Therapie. Ich konnte aber nicht verstehen, wieso ein Kindersarg so scheiß-teuer ist. Warum eine Einäscherung nicht im Sozialtarif enthalten ist. Warum die Behörden mich damit alleine ließen, dass ich mich eben hätte früher informieren müssen.
Ich konnte nicht verstehen, dass so viele Menschen mich alleine ließen in dieser unfassbaren Zeit. Aber ich hielt mich an Weihnachten fest. Das Jahr mag grausam sein. Aber Weihnachten ist anders…
Lieber fremder Mensch, liebe Familie des Menschen: Das Leben schickt uns immer wieder auf irre Fahrten und stellt uns vor die unfassbarsten Hürden. Aber es schickt auch andere Menschen, die helfen können. Auf ihre eigene Art. Mit ihren eigenen Ressourcen. Ich würde Euch so gern ein Stück aus meinem Leben von heute abgeben, damit eure Hoffnung weiter flackert und Euch gut in das nächste Jahr trägt. Wenn Du möchtest, schreib mir.
Minusch
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