Content: beinhaltet Schilderungen von Gewalt
ich weiß nicht, ob Sie es wussten…ich hab mich aus verschiedenen Gründen mit dem Themenbereich Psychiatrie beschäftigt. ich habe mit dauerhaft psychisch kranken Erwachsenen gearbeitet, mit psychosomatisch erkrankten Kindern, ich habe das Thema Depression künstlerisch aufgearbeitet, war (und reagiere auf zu hohe Belastung) depressiv, habe drei ambulante Psychotherapien abgeschlossen und wollte mich nach dem Tod meines Sohnes selbst einweisen.
ich kenne dieses System von innen wie von außen. und mein Fazit ist:
das, was uns als Hilfe verkauft wird, ist nicht die Hilfe, die wir gern hätten.
das, was in Bayern jetzt als Gesetzesentwurf (#BayPsychKG) vorgeschlagen wurde, ist gar nichts überraschendes.
gehandhabt wird das, was da steht ohnehin schon so. das gesamte PsychKG ist eine riesige Grauzone zu Lasten der Patient*innen. und dabei hat die Psychiatrie-Reform der 80er schon einiges an Menschenrechten in diesem Bereich durchgesetzt.
Exkurs:
vor der Psychiatriereform war es so, dass Zwangseinweisungen relativ problemlos möglich waren (beispielsweise konnten sich Männer so ihrer „hysterischen Ehefrauen“ entledigen). auch Homosexuelle konnten als psychisch krank eingewiesen werden. Selbst- oder Fremdgefährdung ist relativ leicht zu begelegen, wenn der/die Patient*in schon ein wirksames Label (lies: Stigma) hat. nach wie vor gibt es die Landespsychiatrien, alte Häuser irgendwo abseits der Wohngebiete, in denen Menschen „aufbewahrt“ werden. klar modernisiert, Catering von außen und heutzutage immer auch mit Kunst- oder Tanztherapie. dort wurden noch vor 50 Jahren Medikamente getestet, dort wurden Menschen in Gruppen mit dem Schlauch „abgeduscht“, dort gab es Toiletten ohne Seitenwände: 10 Erwachsene saßen nebeneinander auf den Schüsseln und ein*e Aufseher*in hat das überwacht. „damit nichts passiert.“ es wurde lange nicht unterschieden zwischen geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung. die Leute konnten je nach Renitenz „fixiert“ werden, damit sie „niemandem was tun“. Hospitalismus. der Begriff hat in diesen Einrichtungen seine Prägung bekommen: Menschen, die Tag für Tag an eine Heizung gekettet auf dem Boden sitzen, können nur noch schaukeln, wippen, Töne wiederholen. diese Erkenntnis ist kein Forschungsergebnis sondern eine Beobachtung des Krankenhauspersonals dieser Zeit.
wer mal einen Einblick in diese verstörende Welt haben möchte, besorgt sich den Film „die Hölle von Ückermünde“ von Ernst Klee. der Film ist so schrecklich, dass er noch vor der Erstausstrahlung verboten wurde. Klee dokumentiert schonungslos als Erzähler Zustände in den Psychiatrien der ehemaligen DDR. wer dabei denkt: „ach, die DDR, da war ja eh alles scheiße“, täuscht sich gewaltig: in der BRD war es nicht besser.
nach wie vor gelten beispielsweise Elektroschocks, Schlafentzug und Fixierung als „Therapien“ beispielsweise bei Major Depression.
in Darmstadt wird nur nicht elektro-geschockt, weil das Gerät seit über 10 Jahren kaputt ist. ich glaube, in Mannheim oder Heidelberg steht das nächste.
ich weiß das, weil mein Psychologie-Professor in dieser Zeit ausgebildet wurde. weil er gelernt hatte, wie ein Mensch von Kopf bis Fuß in ein nasses Laken gewickelt wird, dass dann durch seine Körpertemperatur langsam trocknet und sich schließlich in seinen Körper anfühlt wie versteinert.
die Psychiatrie in Deutschland verkauft sich gern als „letzte Rettung“.
wenn die Telefonseelsorge nicht mehr weiter weiß, dann klingel bei der Ambulanz. die nehmen Dich schnell auf. die Zimmer werden geputzt, Essen gibts von der Krankenhausküche, der Tag beginnt zwischen 5 und 6 und endet mit dem Abendessen um 17:30Uhr. um 13:00 ist Übergabe. dann wieder um 21:00 Uhr und dann morgens so gegen 7. klingt jetzt nicht soooo schlimm. da sind immer Therapeut*innen. nicht immer der Mensch, der Dir zugewiesen wurde, weil bei dem/der gerade ein Platz frei wurde, aber diese Menschen sind grundsätzlich fast rund um die Uhr erreichbar. vor allem, wenn sie noch Idealist*innen sind. da ist Pflegepersonal. die haben die Befugnis, in Absprache mit den Psychiatern, in einem gewissen Rahmen Medikamentendosen anzupassen. na wenn die Müller wieder ihre Angstattacke kriegt, weil sie wieder ihren Ex angerufen hat, da hilft nur ne höhere Dosis Tetrazepam. kann ja nicht immer ein Therapeut dafür antanzen.
und wenn dann der Krankenhaus-Rhythmus ins Wanken kommt, weil die Aufgaben nicht gemacht werden, tja, dann müssen die Patient*innen auch aushalten, dass das Personal mal negativ reagiert. müssen die lernen. das Leben ist kein Ponyhof. aber sonst ist echt alles schön. malen und tanzen und basteln…gut, das gefällt nicht jedem, aber kein Ponyhof und so. dafür gibts ja ab und zu tiergestützte Therapie!
die moderne Psychiatrie zeichnet nach aktuellem Stand ein ganz anderes Bild als das, was in den Einrichtungen umgesetzt wird.
selbst in Neubauten ist deutlich noch der Geist von vor 50 Jahren spürbar.
es liegt nicht an den dicken Wänden, die Schall schlucken. es liegt auch nicht an abgelegenen Standorten. es liegt an dem System Krankenhaus, das genauso reformbedürftig ist wie das System Schule. es funktioniert streng hierarchisch. es muss wirtschaftlich sein. und es hat einen Auftrag, der nicht erfüllbar ist: innerhalb eines hierarchischen Systems Menschen „heilen“, die an Hierarchien kaputt gegangen sind.
ja, die Notwendigkeiten sind all zu menschlich:
Menschen, die den Job machen sollen, werden mal krank und brauchen Urlaub und müssen in der Zeit vertreten werden. sie haben Anspruch auf ordentliche Arbeitszeiten, Supervision und Fortbildungen. sie bauen ihre professionellen Beziehungen innerhalb der Schicht auf. und wenn sie dann mal 2 Wochen fehlen, dann müssen die Patient*innen das eben aushalten. es ist auch schwer, am Essens-Rhythmus was zu individualisieren. eine Psychiatrie ist kein Hotel und die Strukturen sind auch so fix, weil wir ja alle wissen, wie heilend feste Strukturen sind. haha.
auf aggressive Handlungen reagieren die Angestellten mit Standards. Aggression hat in der Psychiatrie keinen Platz. und: ja, wenn jemand zu betreuungsintensiv ist, dann wird das in der Akte vermerkt und die Dosis wird erhöht. nicht der Betreuungsschlüssel. wir sind ja alle nur Menschen. und woher sollen wir auch das Personal nehmen?
die Psychiatrie medikamentiert übrigens ekklektizistisch.
das ist Standard. für jedes Diagnose gibt es passende Medikamente und die werden ausprobiert.
wenn sie helfen: prima! we did a good job!
wenn sie nicht helfen: was kommt als nächstes auf der Liste?
von der Notwendigkeit solche Medikamente über einen längeren Zeitraum einzustellen, mal ganz zu schweigen. und es gibt wenig Spielraum, als Patient*in dazu „nein“ zu sagen.
mein Beispiel:
ich wollte mich selbst einweisen. 2 Monate nach dem Tod meines Sohnes, war der Schockzustand weg und die Trauer voll da. in der Zeit wurde es meinem neuen Partner zu viel und er erklärte mir, er wolle gehen. sein Auto war gepackt. sein Schlüssel lag auf meinem Tisch.
ich bat ihn, mich in die Psychiatrie zu bringen, weil ich diesen Zustand einfach nicht ertragen konnte.
in der Ambulanz wurde ich schnell in einen Nebenraum gebracht und wartete dort auf einen „von der Station“. der Psychiater erklärte mir das Vorgehen, drückte mir eine Beruhigungspille in die Hand und ich fragte, ob ich mich noch von meinem Freund (der zurück wollte in die Niederlande und den ich gebeten hatte, draußen zu warten, sollte ich doch noch was brauchen) verabschieden könne. der Arzt sagte mir: „ihr Freund wollte noch schnell was besorgen. er kommt später vorbei. nehmen Sie erstmal die Tablette und kommen Sie mit hoch.“
und in dem Moment ging es ganz schnell in meinem Kopf. der Arzt log mich an. mein Freund hatte nichts zu besorgen. sein Auto war voller Klamotten, seinem Computer, der Kaffeemaschine etc. mein Freund wollte abreisen. er hätte keinen Grund gehabt, mit dem vollen Auto „was zu besorgen“.
ich stand auf und ging mit dem Arzt durch die Tür und drehte mich um und rannte durch die Notaufnahme nach draußen und weg. der Arzt und eine Schwester aus der Ambulanz rannten hinter mir her. ich hatte nichts unterschrieben. meine Diagnose stand ja schon: Depression. ich war deswegen in Behandlung. aber die zwei rannten in ihren weißen Kitteln hinter mir her und riefen irgendein Zeug, das ich nicht verstand.
hätte ich die Pille genommen, hätte die mich ruhig gestellt. wahrscheinlich wäre ich kooperativer geworden. und schwächer. dieser Arzt hatte meinen Freund gegen meinen Willen weggeschickt. ja, er war zu diesem Zeitpunkt wirklich schon auf der A3 Richtung Köln. der Arzt hatte mich belogen und mir Beruhigungsmittel angeboten. ohne intensives Gespräch. ohne Beziehungsaufbau. aufgrund seiner nicht überprüften Annahmen über mich und das alles in einem weißen Kittel, der ihn als Arzt auszeichnet.
das, was wir uns unter einer Psychiatrie vorstellen ist ein nicht das, was es sein sollte.
es ist auch nicht das, was Therapeut*innen gern hätten. es ist eine Spezial-Klinik: Krankenhaus-Hierarchie, Krankenhaus-Vorschriften, Krankenhaus-Standards. es geht nicht darum, Menschen zu unterstützen. es geht darum, Menschen zu heilen. es geht nicht darum, die Verursacher*innen des Leides bloßzustellen und am weiteren Misshandlungen zu hindern. es geht darum, die Patient*innen wieder arbeitsfähig zu machen. am besten innerhalb von der Krankenkasse vorgegebenen Fristen. Patient*innen suchen sich ihre Therapeut*innen nicht aus. sie werden zugeteilt. und es ist schon einiges nötig, diese Zuteilung zu beeinflussen. und wer sich dort nicht wohlfühlen, hört öfter mal, dass das ja auch kein Hotel ist.
die Therapien sind auch nur die, die im Krankenhausstandard vorgesehen sind. beispielsweise müssen sich beispielsweise anorektische Mädchen ihre Freiräume erst erarbeiten. ihnen wird alles weggenommen, was ihnen etwas bedeutet, und dann dürfen sie mit jeder erreichten Zahl auf der Waage wieder etwas zurück bekommen. oder es wird ihnen wieder weggenommen. Verhaltenstherapie heißt das dann. extrinsische Motivation. ob das jetzt langfristig so wahnsinnig sinnvoll ist, weiß keiner. ja, die Rückfallquoten bei Anorexie sind arg hoch. aber das liegt ja an der Krankheiten und diesen Mädchen. naja, das ist halt immer derselbe Typ, nicht wahr? wenn die das Krankenhaus mit 9kg mehr verlassen haben, waren sie wohl nicht willensstark genug, es draußen zu schaffen. am vorgeschriebenen therapeutischen Ablauf etwas ändern? nee, sonst müssten wir ja für jede*n Patient*in das Rad neu erfinden…
ich lass das mal so stehen.
der Gedanke, dass an den Kranken unserer Gesellschaft nur sichtbar wird, was in der Gesellschaft falsch läuft, ist alles andere als neu.
wenn wir uns die großen Künstler unserer Welt anschauen: die hatten alle eine ordentliche Diagnose. Maler*innen, Schriftststeller*innen, Schauspieler*innen. kreative Menschen, Menschen mit anderen Bedürfnissen, Menschen mit Visionen, haben es schwer. unfassbar schwer. die Menschen, die in der Psychiatrie landen, leiden unter ihrem Leben. nicht unter sich selbst. die häuslichen Beziehungsstrukturen von Borderline-Patienten sind haarsträubend. die Eltern anorektischer Kinder haben Angewohnheiten, die selbst an Zwangsstörungen grenzen (wenn nicht Zwangsstörungen sind).
wir haben uns angewöhnt, die Menschen zu stigmatisieren, an denen sichtbar wird, was andere mit ihnen gemacht haben.
es ist nur konsequent, diese Menschen in noch mehr Listen zu sammeln. nicht dass sie nicht ohnehin schon Akten hätten und bei den Krankenkassen als Psychiatriepatienten vermerkt sind. Schulen und Arbeitgeber vermerken das auch. wenn ich beispielsweise eine Berufsunfähigkeitsversicherung will, dann sind psychische Erkrankungen für mich nach dem Informationsaustausch von Versicherung und Krankenkasse ausgeschlossen. weil ich depressiv war, nachdem mein Kind gestorben ist. ich kann arbeiten, wenn ich meine Beine verliere, wenn ich blind werde, wenn mein Gehör kaputt ist. aber ich kann nicht arbeiten, wenn meine Seele entgleist. also kann ich mir diese Versicherung gut und gerne sparen.
das, wofür das #BayPsychKG steht, ist genau das, was in den Psychiatrien schon in Grauzonen versucht wird (Beispiel: Gusto Mollath). gut ist: dies ist ein sehr guter Zeitpunkt, darauf aufmerksam zu werden und das ganze System zu prüfen! es steht eine weitere Reform aus! dringend! die 80er waren der Anfang. da ging es darum, Menschenrechte auch in der Psychatrie zu wahren und psychisch kranken Menschen ein selbständiges Leben im Betreuten Wohnen zu ermöglichen. die Infrastruktur überhaupt mal zu denken und die Wege zu ebnen. Notfallambulanzen, Tageskliniken innerhalb der Städte, WGs, sozialpsychiatrische Vereine…das alles gab es vorher nicht.
der nächste notwendige Schritt wäre der Schritt raus aus dieser alten Hierarchie „Krankenhaus“.
und in einem dritten Schritt wären wir dann vielleicht sogar mal in der Lage, die gängigen therapeutischen Arbeitsrichtungen paradigmatisch zu untersuchen und dahingehend zu verändern, dass die Patient*innen mit ihren Therapeut*innen endlich auf Augenhöhe stehen und nicht mehr patriarchal behandelt werden. unsere Gesellschaft kann Abweichungen von der (fiktiven) Norm sehr gut verkraften, wenn nicht sogar davon profitieren. schwierig wird es, wenn Menschen zusätzlich zu ihren Alltagsängsten und den Leistungsängsten noch Angst vor der Konfrontation mit ihren Abweichungen haben.
…ich belege meine Aussagen an dieser Stelle nicht, weil ich „nebenher“ blogge. weil meine Zeit kaum reicht, um überhaupt zu schreiben. nicht, weil es keine Quellen gäbe. dieser Text hier, entstand, während meine Kinder um mich herum Blumenmaus und Pusteblume spielten. vielleicht liest es sich als Kommentar besser. ich könnte immer weiter und weiter schreiben. über Entmündigung, über gesetzliche Vertreter*innen. über Liebe und Sexualität und den Zugang zu Verhütungsmitteln. über Familiengründung und das Jugendamt in solchen Fällen. über das Paradoxon, dass ein*e Therapeut*in so ziemlich in jedem Menschen eine Störung finden und diagnostizieren kann. über Experimente in den USA, in denen sich gesunde Menschen haben einweisen lassen und pathologisiert wurden. über die Frage von Gesundheit in Abgrenzung zu Krankheit. und vor allem darüber, warum wir es Täter*innen wieder und wieder so verdammt einfach machen in diesem Land.
dieses Thema ist gewichtig. aber es wird erst dann spürbar, wenn wir betroffen sind. wenn wir darüber reden. schreiben. wenn wir es in den Diskurs heben und keine Angst vor dieser Hierarchie haben. wenn sich Patient*innen wie Therapeut*innen und Pflegekräfte zu Wort melden. und wenn es möglich wird, die Institution zu kritisieren. fast bin ich dem #BayPsychKG dankbar. möge der Diskurs noch etwas länger blühen als eine Woche im April 2018.
liefs,
Minusch
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