madeira

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in Gedanken habe ich viele verschiedene Anfänge für diesen Text ausprobiert. einer davon hätte sich als direkten Gruß an meine Mutter gerichtet, die im Urlaub an einer Stelle voll Zorn zwischen den Zähnen rauspresste, dass sie ja dann auf meinem Blog lesen würde könne, wie es weitergegangen sei. ein anderer Anfang hätte versucht zu erklären, wie es dazu kommt, dass eine alleinerziehende Mama mit zwei Söhnen auf der Dachterasse des Savoy in Calheta landet. und wieder ein anderer hätte vielleicht beschrieben, wie Urlaub mit Kindern und ohne erwachsene Zweitbesetzung auf Madeira funktionieren oder scheitern kann.

nun ist Samstagabend. zwei Tage nach unserer Heimreise. die Wäsche ist gewaschen. die Heimreise ist verdaut. und ganz langsam klärt sich die Sicht auf das, was hinter uns – hinter mir – liegt: eine Woche so voller Erlebnisse, dass es gut für 4 Wochen gerecht hätte.

ich bin keine Reise-Bloggerin. daher schreibe ich hier keinen Reisebericht. und als nicht-Influencerin habe ich auch keine gestellten Fotos zu teilen. tolle Fotos können die mit den guten Kameras ohnehin besser als ich mit meinem veralteten Iphone.

ich bin auch kein Racheengel. daher werde ich keinesfalls breiter treten, was genau in unserer Familie geschehen ist. wichtig ist nur: meine Kinder haben viel gelernt. und ich bin jetzt hier in meinem Bett mit meinem Laptop und unserer Geschichte im Rücken glücklich. und ich bin, so selten das auch vorkommt, stolz auf mich.

sicher bin ich nicht stolz auf das mit der Dachterasse. das war eine radikale Notlösung. wenn ich schon überraschend an meinen Notgroschen muss, dann mit einem Höchstmaß an Sicherheit. Sicherheit meint in dem Moment: ich habe während eines gemeinsamen Urlaubes mit meinen Eltern (eines Urlaubes, denn sie uns geschenkt haben, damit ich mich erholen kann) das gemeinsamen Ferienhaus mit meinen Kindern verlassen, weil ich das, was zwischen uns passierte, nicht mehr kompensieren konnte und ein Ende des Konfliktes nicht absehbar war. Sicherheit meint, dass ich eine schnelle und realistische Lösung brauchte, um meinen Kindern und mir noch mehr Energieverlust zu ersparen. eine Lösung, die mir ermöglichte, mich zu erholen, ohne zu viel Kraft an anderen Stellen investieren zu müssen. Sicherheit meint, dass ich mir 3 Tage Erholung über Geld ermöglicht habe. Geld, das dafür nicht vorgesehen war, dass jetzt auch erstmal fehlt, dass aber so investiert war, dass ich nichts bereue.

stolz bin ich auf mein Vorgehen, gemeinsam mit den Kindern entschieden zu haben, wie wir mit dem Konflikt im Ferienhaus umgehen. meine Söhne haben sowas noch nie vorher erlebt. der eine wurde immer stiller. der andere wurde immer wütender. und ich konnte mich in beiden Reaktionsweisen selbst wieder erkennen. irgendwann haben wir alle drei geweint, weil alle unsere Lösungsvorschläge und unsere Appelle an die anderen Erwachsenen im Haus abgeschmettert wurden. zwei Nächte habe ich mich im Bett herum gewälzt und mit dem Zustand gehadert. zwei Tage habe ich versucht, das Beste rauszuholen, den Sturm zu akzeptieren und nicht zu beantworten. zwei Tage habe ich mich in all dem Gewitter daran erinnert, wie es früher war: ich habe als Mädchen all dem genauso entrüstet gegenüber gestanden wie jetzt, nur war ich damals abhängig von den anderen und konnte mich selbst nicht schützen.

dieses Mal konnte ich es. ich konnte mich und auch meine Kinder schützen. ich konnte mich ausdrücken, ich konnte reflektieren, ich konnte emotionale Bestandteile zu großen Teilen ausklammern und lösungsorientiert handeln. und ich konnte in einer Patt-Situation den König hinschmeißen und einfach gehen.

dieses Gefühl, in einem Land, dessen Sprache ich nicht kann, mit meinen Kindern ungeplant allein gewesen zu sein und es gemeistert zu haben, ist überwältigend. und inzwischen kann ich zumindest ein paar portugiesische Floskeln. ich schaue zurück auf drei herrliche Tage ohne Streit trotz Muffeleien. wir haben miteinander gesprochen, gerätselt, gestaunt und genossen. und wir haben in-time reflektiert, was geschieht. meine Kinder haben Handlungsoptionen kennengelernt: loslassen, wenn keine Lösung möglich ist. Distanz herstellen und aus der Distanz die Perspektive wechseln. die eigenen Gefühle wahrnehmen, benennen und akzeptieren. und in all dem Selbstsorge üben, sich selbst Freude machen.

Sonntag vor einer Woche dachte ich noch: die Seilbahnfahrt beim Canyoning im Gebirgsbach hinter Funchal wäre mein größter Moment als Mama. allein um mich in diesen Neoprenanzug reinzubekommen, waren zwei Männer nötig, die die Hose hielten, während ich langsam hineinsank. und während des Aufstiegs zum Einstieg in voller Montur inklusive Klettergurt dachte ich ein paar Mal, ob ich mich nicht komplett selbstüberschätzt habe: ich war die älteste und dickste der Gruppe und auch die einzige mit Kind. ich war bergauf immer die letzte, weil mich der Anzug wie eine Ganzkörperkompression an vernünftigen Schritten und vernünftiger Atmung hinderte.

während der ersten Hürde, der Seilbahnfahrt etwa 6m an einem Wasserfall hinunter, war ich die letzt und sollte, ohne es zu wissen, in der Luft hängend Teil eines Gruppenfotos werden. meine Fahrt wurde mittendrin gestoppt, ich hörte Rufe, ich solle mich umdrehen. ich dachte, ich hätte was falsch gemacht und hätte vorwärts rutschen sollen…aber tatsächlich sollte ich einfach nur in der Luft über der Gruppe hängen. die entsprechenden Fotos zeigen eine dynamisch-sportliche Truppe vor einem Wasserfall unter einer sehr seltsam aussehenden Frau in zu engem Neoprenanzug mit verwirrtem Gesicht.

ich habe mich im Laufe dieser 4h-Tour noch 5 Mal selbst abgeseilt (höchste Stelle war etwas über 10m), bin in einen Mini-Pool gesprungen, bin bei sämtlichen Rutsch-Partien eisern auf dem Hintern sitzen geblieben anstatt zu rutschen und befinde mich jetzt wie ein „was passt nicht in diese Reihe“ auf etwa 200 Fotos, die die anderen Teilnehmenden der Tour gerade runterladen, um damit vor ihren Freunden und Bekannten zu flexen. aber ich habe auch meinen Sohn an seinem Geburtstag begleitet. ich habe meinem Sohn, der Risiko und Klettern und Wasser liebt, diese Tour geschenkt und mit ihm durchgezogen. wir sind gemeinsam durch enge Spalten geklettert, haben uns nach dem Abseilen abgeklatscht, haben Wasserfälle bestaunt und bedauert, dass wir an all den schönen Picknick-Plätzen niemals Picknick machen werden, weil wir diese nie lebend mit Gepäck erreichen würden.

was aber viel schwerer wiegt als meine Bereitschaft, mich von fremden Männern in einen Neoprenanzug stecken zu lassen, ist meine Bereitschaft, meine Kinder zu schützen. an dem Tag, an dem wir beschlossen, in ein Hotel zu gehen, habe ich, wie ich finde, geglänzt. ich habe mich mit meiner besten Freundin und einer lieben Bekannten kurz geschlossen. ich habe mir Feedback geholt. ich habe nicht allein entschieden sondern mit meinen Kindern gemeinsam. ich habe uns dabei Zeit gelassen. Zeit für Tränen, für Wut und für Unsicherheit. ich habe mit den Kindern gemeinsam gehandelt und ihnen so größtmögliche Partizipation ermöglicht in einer Situation, die das Potenzial zum Kontrollverlust hatte. und ich habe all das tun können, ohne mich selbst auszuklammern. meine Interessen waren genauso Teil des Prozesses wie die Interessen meiner Kinder. und das schlechte Gewissen gegenüber den beiden anderen Erwachsenen, haben wir freundlich zu dritt abgewiesen.

das, was wir auf Madeira erlebt haben, war für mich rückblickend ein großer Test, ob meine Therapien wirklich nachhaltig waren. ich hatte zwar immer das Gefühl, dass ich durch die Therapien viel gelernt und auch an mir verändert habe, aber ich meide ja ansonsten derartige Konstellationen wie in diesem Urlaub. zugelassen habe ich das auch jetzt nur aus familienromantischen Ideen: als Großeltern haben meine Eltern ja ganz andere Handlungsoptionen als als Eltern und im Hinblick darauf hätte ich mir nie träumen lassen, ein derartiges Gefühls-Revival erleben zu müssen. nun bin ich schlauer als noch vor einer Woche. aber ich bin mir auch sicher: ich habe einen großen Teil meines emotionalen Erbes erfolgreich abgelegt. das, was meine Mutter zum Entgleisen bringt, bringt mich nicht mal aus der Ruhe. ich habe gewonnen.

was jetzt vor uns liegt, ist noch nicht absehbar. wahrscheinlich eine Weile Funkstille, wie es immer war. aber es ist auch gar nicht wichtig, das jetzt schon zu wissen, denn: egal was kommt, meine Kinder und ich, wir schaffen das zusammen. und Madeira klingt für mich nicht nur nach Abenteuer und Felswänden sondern auch nach angekommen in mir selbst.

Liefs,

Minusch

4 Antworten zu „madeira”.

  1. Avatar von A.C.
    A.C.

    Boah echt ganz großen Respekt, dass du diese Canyoningtour gemacht hast. Ich beuge mich tief. Du hast es deinem Sohn ermöglicht.

    Und du hast die Reissleine gezogen und dich abgesetzt in der Fremde um nicht mehr Opfer sein zu müssen. Ganz stark!

    1. Avatar von 2kinderkuechebadbalkon

      Danke Dir für die Anerkennung.

  2. Avatar von N. Aunyn

    Wow – herzlichen Glückwunsch zu diesem Ergebnis und auch dem Prozeß. Madeira ist ein gutes Erinnerungswort.

    1. Avatar von 2kinderkuechebadbalkon

      Danke…also es wirkt definitiv in meinen Alltag hinein und tut gut. 🙂

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