verwalterin

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herrje habe ich viele Erinnerungen. es sind so viele, dass einige davon schon fast nicht mehr wahr zu sein scheinen.

es gab eine Zeit, in der ich aktiv versucht habe, meine Erinnerungen selbst zu katalogisieren. Worte, Texte, Tagebucheinträge, Gedichte, Gegenstände, verwahrt in einer Kiste für Wichtiges (das DARF ich nie vergessen!), Schönes (das WILL ich nie vergessen!) und Giftiges (so ähnlich wie das „DARF“ ich nicht vergessen, aber eine andere Kiste). Die Kisten wurden größer, mischten sich mit Mixtape- und Mix-Cds-Sammlungen, Büchern und Postkarten und irgendwann sprengte all das meine Möglichkeiten.

dann habe ich versucht, wie beim Erlernen des fluiden Träumens, bewusste Erinnerungsanker zu setzen. beim Träumen hatte das schon geklappt. ich kann mich inzwischen an meine Träume nicht mehr nicht erinnern. bei den Erinnerungen allerdings wurde ich das Gefühl nicht los, dass da irgendwas anders läuft. sie tauschten irgendwie die Plätze beim Erinnern und plötzlich passten sie nicht mehr zu dem, woran ich mich eigentlich erinnern wollte und brachten mich durcheinander. also gab ich auch diesen Vorgang wieder auf.

in meiner Therapie musste ich mich auf einen Schlag und oft spontan an alles mögliche erinnern. und nach jeder Sitzung dachte ich, dass das gar nicht geht. ich erinnerte mich im Gespräch schlagartig an Bilder, Licht, Gerüche und Worte. ich hatte sofort Gefühle wie in Leuchtschrift vor mir stehen. aber je länger ich mich erinnerte, desto mehr veränderte sich alles bis nur das Licht blieb. ich erkannte dadurch den Wert meiner Gefühle. und ihre Macht. und Ohnmacht. und wie alles in mir weiter lebt…

…und die Erinnerungen leben wirklich weiter. sie bewegen sich durch den Körper. nicht von allen können wir es spüren, aber wer schonmal eine traumatische Erfahrung gemacht hat, oder am besten gleich mehrere, der oder die kennt das bestimmt: plötzlich eine unklare Bedrohung oder Übelkeit ohne Auslöser, ein plötzliches Überhitzen unter Stress und dann ein Gefühl von Gewissheit, nichts tun zu können. ohne reales Gegenstück. einfach aus der Erinnerung.

schöne Erinnerungen können das auch. sie können sich, ausgelöst durch vielleicht einen Duft, im Körper ausbreiten, den Rücken entspannen, Tränen glucksen lassen und die Lippen zum lächeln bringen. alle Erinnerungen an den ersten Schnee des Winters sind in dem Moment eines neuen ersten Schneegestöbers mit einen mal wieder wach und wirken durch meinen ganzen Körper und erschaffen einen neuen zauberhaften Moment. die ersten Schneeglöckchen können das auch. die erste Kerze des Adventskranzes. ein tiefer Atemzug in einem Nadelwald. oder der erste Schritt vom Deich runter in Richtung Strand. Schuhe ausziehen. Zehen eingraben. Wind. Salz.

und dann wären da noch die komplexen Erinnerungen an Menschen. Freunde. Familie. es gibt sicher wenige Erinnerungen an Menschen, die nur gut sind. und die, die nur mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden sind, erinnern mich hoffentlich nicht mehr als zu oft an sich. aber die Erinnerungen bleiben. und wandeln sich. je nach Licht, das nicht konkret auf mich sondern gedanklich auf diese Menschen fällt, verfärben sich meine Erinnerungen an sie mit. als würde ich ihnen durch unflexibles Erinnern unrecht tun, passen sich die Erinnerungen an. meine Erinnerungen wachsen mit der Zeit und mit mir und dem, was ich lerne. und dadurch treten sie kurz hervor oder zurück, changieren vielleicht kurz mit dem Jetzt und bleiben, so lange ich sie lasse oder nicht bewusst verdenken kann.

die schwierigsten unter diesen Erinnerungen, die, die heute viel anrichten und immer mehr meiner Aufmerksam fordern als ich ihnen eigentlich zugestehen mag, sind die an Menschen, von denen ich etwas gebraucht hätte, was ich nicht bekommen habe. und das ist in meinem Fall nie etwas konkretes, sondern immer abstrakt: Anerkennung, Zuneigung, eine Erklärung, eine Entschuldigung, Verständnis, Vertrauen oder Schutz. ich möchte das selbst nicht als offene Rechnungen sehen, aber vielleicht als offene Akten. mit diffuser Wiedervorlage. sie hängen im Hängeregister und schaukeln mit meinen Bewegungen sanft, ruckeln, wenn ich die Schublade aufziehe und lassen ein Staubwölkchen aufstieben, wenn ich die Schublade schließe. sie waren mal wütend eingefärbt, mal traurig oder resigniert, enttäuscht oder verzweifelt. und heute sind sie staubiger Teil meines Erinnerungslebens.

warum denke ich darüber nach?

weil gerade jemand Fremdes Staub aufgewirbelt hat und meine Erinnerungsfähigkeit in Frage stellt. weil gerade jemand meine Erinnerungen verändern möchte. weil etwas, was ich erlebt habe, so nicht stattgefunden haben soll.

und auch an sowas kann ich mich schon erinnern: der Porschefahrer. der Referent im Zeltlager. der Praxisanleiter am Theater. der Mann auf der Tanzfläche. der Mann im Zug. der Besoffene in der Straßenbahn. der Ranger in Südafrika. der Dönerverkäufer. der Ex. die Mutter.

ich denke über mein Erinnerungsvermögen nach. es wird nie in Frage gestellt, es sei denn, ich äußere Kritik. im Alltag wird es mir nicht abgesprochen. meine Auffassungsgabe wird als gut bewertet. und es gibt keinen Grund für ausführliche Diagnostik in Bezug darauf. aber wenn ich eine Beschwerde äußere, entsteht da plötzlich sowas wie ein Kampfring, in dem ich abgeschnitten von meinem Leben, belegen können soll, dass ich das Recht habe, mich zu beschweren. in diesem Ring war ich schon alles mögliche: eine Hure, Bitch, eingebildete Fotze, neidisch, zu jung für eine Meinung, gierig, emotional, streitlustig, anmaßend. aber ich war nie „im Recht“.

für meine eigene Herzensruhe, denke ich also darüber nach, wie es sich mit meinen Erinnerungen verhält, beobachte ihre Fortbewegung und Veränderung und ehre sie. mein Erinnerungsvermögen ist gut. war es immer. die Einordnung meiner Erinnerungen mag Schwankungen unterliegen. aber dieses Problem haben wir alle gemeinsam und ist bei mir nicht stärker ausgeprägt als bei anderen. und dann wären da auch noch die Notizen, die mir versichern: das ist das Gesagte und daran muss sich das Gegenüber messen lassen.

ich bin 45 Jahre alt. weiblich. und mich überrascht nur noch wenig. und wenn doch, dann schreibe ich es mir auf. sorry, Mate.

Liefs,

Minusch

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